Jeder kennt sie. Jeder ist ihnen begegnet. Vielleicht steckt in uns allen sogar ein kleiner Vertreter dieser Spezies. Es sind die Menschen, die ihre eigene Erfahrung als das einzig Wahre betrachten. Die im Gespräch, kaum dass ein Thema aufkommt, augenblicklich zu Experten werden. Die ein Urteil fällen, als wäre es in Stein gemeißelt: „Also ich mache das nicht – also macht das niemand.“ Punkt. Diskussion beendet.

Für sie existiert keine Statistik, keine alternative Perspektive, keine andere Lebensrealität. Ihre Bilanz? Ein Kassensturz aus persönlichen Erlebnissen. Und weil diese Erlebnisse echt sind, weil sie sie selbst erfahren haben, kann ja wohl kaum jemand daran rütteln. Wer etwas anderes behauptet, liegt automatisch falsch.

Man könnte es fast bewundern, diese absolute Gewissheit, mit der manche Menschen die Welt erklären. Doch so bequem dieser Ansatz auch ist, er hat einen entscheidenden Haken: Die eigene Realität ist nicht die allgemeingültige Realität.

Ein Beispiel. Ein Mensch, der sein Leben lang nie in einem Flugzeug saß, kann voller Überzeugung sagen: „Also fliegen ist doch total unnötig, wozu soll man das brauchen?“ Für ihn ergibt das Sinn, denn er hat es ja nie gebraucht. Der Vielreisende hingegen kann über diese Aussage nur den Kopf schütteln. „Ohne Fliegen wäre mein Job unmöglich!“ Zwei Welten prallen aufeinander, aber nur eine Seite erkennt die andere an.

Oder der Klassiker: Ernährung. Jemand, der nie vegetarisch gegessen hat, ist sich absolut sicher: „Das schmeckt doch gar nicht!“ Es gibt keine Notwendigkeit, es zu probieren. Schließlich haben seine bisherigen Erfahrungen immer Fleisch enthalten – also muss das die Norm sein. Dass Millionen Menschen anders essen und es ihnen nicht nur schmeckt, sondern sie dabei auch glücklich sind, ist ein Detail, das in seiner Welt nicht vorkommt.

Woran liegt das? Warum sind so viele Menschen überzeugt, dass ihre eigene Lebensweise das Maß aller Dinge ist?

Die Antwort ist simpel: Das Gehirn liebt Effizienz. Es ist viel einfacher, die eigene Erfahrungswelt als allgemeingültig anzusehen, als sich mit fremden Perspektiven auseinanderzusetzen. Wer seinen Horizont erweitern will, muss geistige Arbeit leisten. Und warum sollte man sich unnötig anstrengen, wenn das eigene Weltbild doch so wunderbar funktioniert?

Dazu kommt ein psychologisches Phänomen: Der sogenannte „False Consensus Effect“. Menschen neigen dazu, zu glauben, dass ihre eigenen Überzeugungen, Vorlieben und Erfahrungen von den meisten anderen Menschen geteilt werden. Kurz gesagt: „Ich denke so, also denken alle so.“ Das gibt ein Gefühl von Sicherheit.

Man kann sich das vorstellen wie ein Dorf mit einer einzigen Bäckerei. Wer dort aufwächst und nie etwas anderes kennt, wird sicher sein: „Brötchen schmecken genau so, wie sie hier gemacht werden!“ Erst wenn er in eine andere Stadt reist und plötzlich ganz andere Backwaren probiert, merkt er, dass seine bisherige Überzeugung nur ein kleiner Ausschnitt der Realität war.

Aber Reisen erfordert Neugier. Und genau daran scheitern viele. Warum sollte man sich auf eine neue Sichtweise einlassen, wenn die alte doch so gemütlich ist? Warum den inneren Widerstand überwinden und sich auf unbekanntes Terrain wagen? Es ist wie ein bequemes Sofa: Man weiß, was man hat, es ist kuschelig, warm und man muss nicht aufstehen.

Doch genau hier liegt die Chance. Denn die spannendsten Gespräche, die tiefsten Erkenntnisse und die besten Geschichten entstehen genau dann, wenn man sich traut, die eigene Perspektive zu verlassen.

Vielleicht ist das ja ein Experiment wert: Beim nächsten Gespräch, wenn jemand selbstsicher sagt „Das macht doch keiner!“, einfach mal nachhaken: „Keiner? Oder nur du nicht?“ Wer weiß, vielleicht entsteht genau daraus eine Diskussion, die mehr verändert als nur ein einziges Weltbild.

Von Kamuran Cakir

Aus einem anderen Blickwinkel

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